Nachfolgend die Ansprache zum Volkstrauertag in Drabenderhöhe von Pastor Frank Müllenmeister:
Meine Damen und Herren!
Deutschland im Jahre 1944. Eine Frau sitzt zu Hause und wartet auf Nachricht von ihrem Sohn. Vor einigen Monaten wurde er eingezogen. Er sollte, so hieß es, für den Sieg kämpfen. Er sollte dazu beitragen, dass der Name Deutschlands in der Welt ein hohes Ansehen genießt. Er sollte für Führer, Volk und Vaterland kämpfen. Stolz kann die Frau darauf nicht sein, denn sie hat bereits vor zwei Jahren in dem Kampf um Stalingrad ihren Mann verloren. Sie waren so glücklich miteinander, sie hatten ihren einzigen Sohn, auf den sie viele Hoffnungen gesetzt haben. Ihr Mann war seinerzeit in den Krieg gezogen und gefallen. Die Trauer um ihn war noch immer nicht vernarbt. Noch immer meint sie, dass ihr Mann einen sinnlosen Tod gestorben ist. Doch sie darf es nicht sagen. Und jetzt ist ihr Sohn in dem gleichen Krieg. Nein, sie kann nicht stolz sein, obwohl ihr schon so viele gesagt haben, dass sie es sein müsste. Sie hat nur Angst um ihn, Angst, dass etwas passieren könnte, Angst, dass er genauso ums Leben kommen könnte wie ihr Mann. Dieser hat jedoch noch sein Leben vor sich. Sie darf diese Angst nicht beim Namen nennen, sie darf nicht sagen, wie abscheulich sie diesen Krieg findet. Da klingelt es an der Tür. Vor ihr steht ein hoher Offizier der deutschen Wehrmacht. Er hat der Frau eine schlimme Nachricht zu bringen. Er sagt es aber voller Stolz, dass dieser junge Mann im Kampf für Volk und Vaterland und für diesen Führer sein Leben gelassen hat. Als sie dies hört, bricht sie zusammen. Offenbar hat man aus den vielen Toten, die bereits gefallen sind, nichts gelernt. Man hat weiter gekämpft und hält diesen Krieg für einen gerechten Krieg. Sie kann es nicht fassen, was sie da gehört hat. Ihr Sohn soll nie mehr zu ihr zurückkommen.
Etwa ein Jahr später ist der Spuk vorbei. Deutschland liegt am Boden. Kein Stein steht mehr auf dem anderen. Es ist alles zerstört. Die Toten werden beklagt, fremde Soldaten kommen und geben nach und nach neue Perspektiven. Spätestens da bekommt unsere Frau das Gefühl, dass sowohl ihr Sohn als auch ihr Mann einen sinnlosen Tod gestorben sind. Sie sind dafür gestorben, dass es den Menschen schlecht geht, sie sind dafür gestorben, dass das Land in Schutt und Asche liegt. Der Wiederaufbau beginnt langsam. Mit der Zeit hat man es dann geschafft. Der so genannte Heldengedenktag wird in den Volkstrauertag umgewandelt, weil man sich der Opfer von Krieg, Terror und Gewalt erinnern möchte. Nie wieder Krieg. So wird von vielen Menschen geschworen.
Im Jahre 1955 wird die Bundeswehr gegründet, ein Jahr nachdem die Bundesrepublik Deutschland der Nato, dem neuen Verteidigungsbündnis beigetreten ist. In vielen Menschen erzeugt dies Skepsis. Soll von deutschem Boden schon wieder Krieg ausgehen? Nein, so wird beteuert, die Bundeswehr dient einzig und allein der Verteidigung gegen einen bösen Feind, der im Osten lauert.
Deutschland im Jahre 1989. Der Bundesrepublik geht es gut. Die Menschen haben satt zu essen. Der Krieg und seine Folgen sind vergessen. Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die den Krieg nicht mehr kennt. Man fühlt sich sicher und ist davon überzeugt, dass es keinen Krieg mehr geben wird. Die Friedensbewegung hat sich einige Jahre zuvor deutlich gegen eine atomare Aufrüstung gegen die Sowjetunion ausgesprochen. Da bricht die DDR, das Ergebnis der Teilung Deutschlands nach dem Krieg zusammen. Es gab eine friedliche Revolution. Auf Gewalt wurde verzichtet. Die Zeit war reif. Deutschland ist erwachsen geworden. Der Krieg als Mittel wird verabscheut. Etwa ein Jahr später wird das mittlerweile wiedervereinigte Deutschland wieder souverän. Die Besatzungsmächte beginnen langsam zu verschwinden. Der so genannte „Kalte Krieg“ ist vorüber. Offenbar hatte man aus der Vergangenheit etwas gelernt. Man hat neue Wege beschritten und sie sind erfolgreich gegangen worden.
Deutschland im Jahre 1999. Deutsche Soldaten gehen zum ersten Mal wieder in ein Kriegsgebiet. Man ist ja jetzt souverän und trägt internationale Verantwortung. Ein bislang pazifistischer Außenminister, der noch vor 10 – 20 Jahren der Friedensbewegung angehörte, die es so nicht mehr gibt, verteidigt diesen Beschluss. Deutsche Soldaten sind im Kosovo und helfen den Frieden zu sichern, nachdem er vorher herbeigebombt worden war. Endlich, so möchte man sagen, darf Deutschland wieder mitspielen. Die Schrecken des Zweiten und die Schrecken des Ersten Weltkrieges sind vergessen. Es müssen neue Wege beschritten werden. Gott sei Dank gibt es Mahner auf diesem Gebiet, denn wir sind keine Diktatur mehr, die den Militarismus von oben befiehlt. Es gibt Skeptiker, die deutlich sagen, dass der vorher stattgefundene Krieg keineswegs gerechtfertigt war. Ja und wieder mussten Mütter um ihre Söhne fürchten oder Ehefrauen hatten Angst davor, dass irgendwann die Nachricht kommt, dass der geliebte Sohn oder der geliebte Ehemann nicht mehr ist. Diesmal nicht für Volk und Vaterland, sondern für den Weltfrieden gefallen. Gott sei Dank gab es „nur“ tödliche Unfälle und keine im Krieg gefallenen Soldaten. Es schien fast wie ein Spaziergang zu sein. Doch die Gefahr war da und viele hatten Angst.
Während im Auftrag der NATO immer noch deutsche Soldaten im Kosovo sind, naht der 11. September 2001. Um 15.00 Uhr deutscher Zeit fliegt ein Flugzeug in den einen Turm des World Trade Centers in New York. Kurz darauf ein zweites in den anderen Turm. Dann bricht alles zusammen. Es ist ganz schnell klar. Dies war ein kriegerischer Akt von islamischen Terroristen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Ruf nach Rache wird laut. So etwas darf man nicht einfach so hinnehmen. Das darf nicht unbeantwortet bleiben. Noch am gleichen Tag spricht unser Bundeskanzler von „uneingeschränkter Solidarität“ gegenüber den USA. Das war Krieg gegen die westliche Welt, die von dem, was sie tut, zutiefst überzeugt ist, dass es richtig ist. Einige Wochen später kommt die Antwort. Amerikanische und britische Flugzeuge greifen Afghanistan an, das Land, in dem der Hauptsitz der Terroristen vermutet wird. Kurze Zeit später der Angriff gegen Irak. Jetzt ist Deutschland gezwungen zu handeln. Ist unser Land bereit deutsche Soldaten in diesen Krieg zu schicken, der als notwendiger Krieg bezeichnet wird, der aber sehr viele Todesopfer unter der Zivilbevölkerung fordert, der dieses Land noch tiefer in die Verstrickung von Krieg und Gewalt hineinbringt, als es ohnehin schon ist? Hätte es nicht doch andere Mittel gegeben, dem Terrorismus beizukommen? Aus dem Zweiten Weltkrieg hatte man viel gelernt. Man wollte nicht mehr Krieg führen, oder sagen wir es anders, man wollte keine Angriffskrieg mehr führen. Das ist bislang auch gelungen. Dann kommt dieser Anschlag auf das World Trade Centers. Das wird als Bedrohung empfunden, sicher zurecht. Doch wird nach diesem Terroranschlag vielleicht darüber nachgedacht, ob man selbst etwas falsch gemacht hat oder anders ausgedrückt, wurde nach den Ursachen dieses Anschlages gefragt? Zunächst einmal nicht, denn man hat ja die richtige Lebensart. Man hat ja den richtigen Umgang mit dem Leben gefunden. Der westlichen Welt geht es, bis auf ein paar Krisen ganz gut. Also ist der bislang eingeschlagene Weg auch der Richtige. Dass es eventuell Menschen auf dieser Erde geben könnte, die darunter leiden, danach wird nicht gefragt. Also geht es logischerweise darum die Terroristen zu bekämpfen. Es ist sicher nicht falsch Menschen zu bekämpfen, die glauben durch kriminelle Akte auf sich aufmerksam machen zu müssen, die mit dem Leben von Menschen spielen. Doch es muss auch gefragt werden, was sie denn dazu bewogen hat, so zu handeln. Man will sie mit aller Gewalt entmachten, um den Terroristen beikommen zu können. Der Erfolg scheint ihnen recht zu geben. Die Taliban sind so gut wie entmachtet. Einer der Hauptterroristen ist gefasst. Also ist es richtig so und man führt weiter Krieg. Jetzt mit deutscher Beteiligung. Und wenn erst einmal Deutsche im Einsatz sind, werden wieder Mütter Angst um ihre Söhne und Ehefrauen Angst um ihre Ehemänner haben oder auch umgekehrt, weil ja Frauen im Zuge der Gleichberechtigung jetzt auch dabei sein dürfen. Wäre es da nicht besser, sich hinterfragen zu lassen und andere Mittel zu finden, um dem Terrorismus zu begegnen? Gibt es nicht vordringlichere Aufgaben in der Welt, als Krieg zu führen?
Die Welt im Jahre 2005. Der Hunger in der Welt ist noch nicht bezwungen. Die Katastrophe des Tsunamie aus dem letzten Jahr ist noch nicht überwunden. Die Wirbelstürme Katrina und Rita zerstörten New Orleans, zerstörten Raffinerien und verstören die Weltwirtschaft. Überschwemmungen und Erdbeben-Katastrophen wie in Pakistan sind an der Tagesordnung und fordern zu einem weltweiten Katastrophenschutz auf. Nur gemeinsam, über alle Volks- und Nationalgrenzen hinweg, Schulter an Schulter können wir einander helfen entstandenes Leid zu mindern. Der heutige Volkstrauertag soll und muss dazu beitragen. Es gibt sicher keine Patentlösung, doch es muss eine Lösung gefunden werden, im Interesse aller Menschen, die den Frieden wollen; im Interesse aller Menschen, die das Leid in der Welt nicht mehr ertragen können, weil sie davon betroffen sind als Opfer oder als Mitleidende. Wir brauchen 2005 Menschen für den weltweiten Einsatz im Katastrophenschutz, nicht für den Militärdienst.
Gebet
Gott, wir kommen zu dir mit unserer Trauer um die Toten und Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer in allen Völkern. Wir klagen dir unser Leid, das Leid unzähliger Menschen, gejagt von Hass und Terror: Kinder, Mütter und Väter, junge und alte Leute. Wir beten für alle, die Verfolgung, Hunger und Krankheit überstehen müssen. Lass ihnen Menschen begegnen, die helfen, verstehen, trösten, die ihnen das Leben erträglich machen und neue Hoffnung in ihnen wecken. Wir beten für alle, die in Katastrophengebieten Leben retten, die sich für Menschlichkeit einsetzen, die Gewalt abbauen helfen, Versöhnung und friedliches Miteinander praktisch leben. Wir beten für uns: Öffne unsere Herzen und Hände, dass wir tun, was dem Frieden dient, dass wir teilen, was wir zum Leben brauchen. Hilf uns Frieden zu stiften und Versöhnung zu leben.
Amen.